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Canyoning – Erfrischend anders

Canyoning – Erfrischend anders
Text: Felix Maurhofer | Datum: 15.04.2019
Canyoning – Erfrischend anders
Beim Canyoning lassen sich auch altbekannte Landschaften neu entdecken. Eine Abseiltour durch kühle Bäche erfrischt an heissen Sommertagen – und bietet mehr Erlebnis als jeder Aquapark. Gut, dass der Einstieg gar nicht schwer fällt.
In einer Ecke der Brockenstube hängt unscheinbar ein blau-grüner Neoprenanzug. Der würde sich sicher fürs Canyoning eignen. Vielleicht passt er auch meiner 12-jährigen Tochter Leena. Und das Ding passt. Nun müssen wir nur noch die optimalen Bedingungen für unser erstes gemeinsames Schluchtabenteuer abwarten. Ein paar Wochen später stimmt alles. Der Eybach bei Leissigen im Berner Oberland führt wenig Wasser. Das Wetter ist stabil, die Gewitter­neigung geht gegen Null und die Temperaturen sind sommerlich warm.

Leena redet während des Aufstiegs wie ein Wasserfall. Ein klares Zeichen dafür, dass sie ein bisschen angespannt ist. Ihr Redefluss pausiert nur, wenn Wanderer unseren Weg kreuzen. Einer bleibt stehen und fragt uns, wohin wir denn in Badehosen und mit diesen grossen Rucksäcken voller Löcher wollten? «Zum Canyoning in den ‹Eybach›», ist unsere Antwort. «Ja, wo ist denn da in Leissigen eine Schlucht?» Die verbirgt sich unter den Bäumen. Doch wenn man ganz leise ist, ist das Rauschen des Baches hörbar.
Rutschiger Fels – Körper nach hinten lehnen und Füsse breitbeinig aufstellen, um am nassen Fels die Kontrolle nicht zu verlieren.  
Foto: Felix Maurhofer
Canyoning – Erfrischend anders
Rutschiger Fels – Körper nach hinten lehnen und Füsse breitbeinig aufstellen, um am nassen Fels die Kontrolle nicht zu verlieren.  

Tückisches Gehgelände

Nach knapp einer Stunde erreichen wir bei einer Brücke den Einstieg zur Schlucht. Hier zwängen wir uns in den Neoprenanzug, ziehen Helm und Abseilgurt an und steigen über die Böschung hinab. Wandernd und kletternd folgen wir dem Bachbett bis zur ersten Abseilstelle. Noch ist die Schlucht offen und breit. Da Leena viel klettert und wandert, ist der Abstieg auf den teils glitschigen Steinen und Felsen kein Problem für sie. Bei höheren Stufen «spotte» ich sie ein bisschen. Ich habe ihr bereits zuhause erklärt, dass ­Gehgelände in der Schlucht am gefährlichsten ist. Man kann schnell ausrutschen und sich verletzen. Und einmal in der Schlucht, wäre eine Rettung aufwändig und zeitraubend. Besser also man überhastet nichts und behält immer schön die Kontrolle.
Höhlenforscher auf Abwegen
Zahlreiche Legenden und Sagen ranken sich um Schluchten und zeigen, dass sich die Menschen seit jeher für die unheimlichen Schlunde interessierten. In der Schweiz gibt es einige hundert tief eingeschnittene Schluchten, die sich für die Outdoor-Aktivität Canyoning anbieten. Im Jahr 1978 begannen Höhlenforscher, den Feschelbach im Wallis zu begehen und einzurichten. Ab den 90er-Jahren wurden die Schluchten systematisch erforscht und das kommerzielle Canyoning nahm seinen Anfang, unter anderem in der Massaschlucht. Neben dem Wallis wurde diese Sportart vor allem im Tessin und dem Berner Oberland immer populärer. 1999 ereignete sich eine Tragödie im Saxetbach, bei der 21 Menschen ums Leben kamen. Dadurch machte das Canyoning Negativschlagzeilen. Seither wurde vieles unternommen, diese Sportart sicherer zu machen. Ein eigenes Rahmengesetz für Risiko­sportarten wurde erlassen. Zusätzlich wurde die Ausbildung für Canyoning-Guides umfassend geregelt.
Bedacht und vorsichtig – Beim Canyoning kann man schnell ausrutschen und sich verletzen. Daher immer langsam und kontrolliert gehen.
Canyoning – Erfrischend anders
Bedacht und vorsichtig – Beim Canyoning kann man schnell ausrutschen und sich verletzen. Daher immer langsam und kontrolliert gehen.

Bergab auf dem Po

Plötzlich verschwindet der Bach bei der ersten Abseilstelle in der Tiefe. Ich fädele das Seil in den Abseilring ein und erkläre Leena ­nochmals die Funktion des Abseilachters. Zusätzlich sichere ich sie mit einem zweiten Seil, denn beim Canyoning wird das Abseilgerät nicht zurückversichert. Man arbeitet grundsätzlich mit losen Systemen, um etwa in Becken mit starker Strömung schnell vom Seil wegzukommen. Leena setzt sich auf den Hintern und seilt sich über den kurzen Wasserfall hinab. Jetzt begreift sie auch, weshalb der Abseilgurt mit einem Kunststoffschutz versehen ist. Vorwärts abseilen hat den Vorteil, dass man gerade bei schmierigen Felsen mehr Kontrolle hat. Kräftig geduscht kommt die Canyoning-Debütantin unten an. Nun ist der Bann gebrochen, die Nervosität ist wie weggewischt. Die Schlucht wird enger. Wir bestaunen den vom Wasser zu schönen Formen ausgewaschenen Fels. Canyoning ist unter kundiger Führung ein eindrückliches Abenteuer in einer von Wasser und Felsen geprägten Landschaft, die schöner kaum sein kann. Es geht bei dieser Sportart darum, eine Schlucht von oben nach unten mit abseilen, klettern, rutschen, springen, waten und schwimmen zu durchqueren.

Pendel zum Höhlenstand

Faszinierend ist die unterschiedliche Ausprägung der Schluchten. Rechts rauscht ein kleiner Wasserfall in die Schlucht, dessen Felsen stark mit Moos bewachsen sind. Weiter unten treffen wir auf Hirschspuren im Sand. Wie das Tier wohl hier herunter gekommen ist? Es folgen die ersten kleinen Rutschen in Pools. Der Spass­faktor steigt, die Abseilstellen werden höher und die Schlucht wird enger. Nach mehreren kurzen Abseilstellen, die Leena bereits alleine meistert, kommt eine hohe Stufe. Das Wasser schiesst hinab und der Wasserdruck ist gut spürbar. Das Becken unten am Wasserfall ist nur knietief, doch die Gischt ist eindrücklich. Es tost und braust gewaltig. Eine Verständigung ist kaum mehr möglich. Da zahlt sich aus, dass ich Leena vor dem Einstieg die wichtigsten Zeichen beigebracht habe.

Hinter dem Becken folgt eine Kaskade nach der anderen. Hier hat sich der Bach tief in den Kalk­felsen gefressen und marmorierte Muster hinterlassen. Um zur nächsten Abseilstelle zu gelangen, müssen wir am Seil hängend zu einer kleinen Höhle pendeln. Wir schaffen es auf Anhieb, und so steht dem Finale nichts mehr im Wege. Zuerst eine Rutsche, dann ein kreisrundes Becken und nochmals eine Steilstufe bis zum letzten Pool. Die Strömung drückt uns aus dem seichten Becken und nachdem das Seil verstaut ist, marschieren wir zum Ausgang der Schlucht. Leena hatte Spass und meinte: «Das ist besser als jeder Aquapark»!
Vom Anfänger zum Guide
Viele kommen über einen Adventure-Anbieter zum ersten Mal mit Canyoning in Berührung. Für die meisten bleibt es ein einmaliges Abenteuer unter kundiger Leitung. Wer aber auf eigene Faust Canyoning-Touren unternehmen möchte, sollte zuerst ein paar Schluchten mit erfahrenen Canyonisten begehen. Es ist ja schliesslich auch nicht ratsam, von der Kletterhalle direkt in eine Mehrseillängenroute einzusteigen. Wichtig ist, sich gründlich mit der komplexen Materie zu befassen. Einerseits gibt es Literatur, andererseits bieten der Verein Bachab.ch, einige Adventure-Anbieter oder Canyoning-Guides spezielle Kurse an. Bereits erfahrene Canyonisten können bei der Swiss Outdoor Association Canyoning-Kurse absolvieren. Für patentierte Bergführer gibt es das Zusatzmodul Canyoning-Guide.
Canyoning – Erfrischend anders
Risikosportart Canyoning?
Canyoning ist nicht risikoreicher als andere Bergsportarten. Vorausgesetzt, man kann die Verhältnisse in der Schlucht in Bezug auf Wassermenge und die daraus resultierenden Strömungsverhältnisse sowie das Wetter richtig einschätzen und beherrscht die Canyoning-spezifischen Seil- und Schwimmtechniken. Bei Gewitterneigung oder starken Regenfällen ist Canyoning wegen der Hochwassergefahr tabu. Je nach Einzugsgebiet der Schlucht kann zu viel Wasser ­Engstellen oder Pools unpassierbar machen. Meistens ist in der Führer­literatur angegeben, welche Wassermenge in einer bestimmten Schlucht noch vertretbar ist. Das richtige Einschätzen der Wasserdynamik bedingt Erfahrung im Begehen von Schluchten. Anfänger sollten Schluchten vorwiegend während Trockenperioden begehen. Bei alpinen Schluchten muss im Frühsommer auch die Schneeschmelze beachtet werden. Wie beim Klettern gibt es auch beim Canyoning eine Schwierigkeitsskala. Dabei werden die aquatischen Schwierigkeiten taxiert, etwa Wildwasserphänomene oder die Höhe von Sprüngen. Abseilstellen und das Gelände im Allgemeinen werden berücksichtigt. Entscheidend ist das Beherrschen der richtigen Seiltechnik. Im Gegensatz zum Klettern wenden Canyonisten fast immer sogenannte lose Systeme an. Während eines Kurses können sich Anfänger damit vertraut machen.
Canyoning – Erfrischend anders
Canyoningtechnik
«Seil- und Sicherungstechnik Canyoning»
von Alexander Riml, ISBN 978-9502384-1-9

Führer
«Canyoning Schweiz»
Franz Baumgartner, Andreas Brunner,
Daniel Zimmermann, ISBN 978-033-02469-4

Ausbildung
swissoutdoorassociation.ch,
bachab.ch, 4000plus.ch

Infos zu Schluchten
schlucht.ch
3 Canyons für Einsteiger
Boggera inferiore
(Lodrino, TI)
Der offene Canyon ist sonnig und hat viele Zwischenausstiege. Trotzdem muss viel gesprungen, gerutscht und abgeseilt werden. Höchste Abseilstelle 25 Meter, Zeit 2 – 3 Stunden.

Valle Morobbia
(Pianezzo bei Bellinzona, TI)
Ein Einsteigercanyon mit landschaftlichen Reizen und langen Gehstrecken. Höchste Abseilstelle 20 Meter, Zeit 4 – 5 Stunden.

Meienreuss
(Wassen, UR)
Alpine Schlucht in schön ausgeschliffenem Aaregranit. Höchste Abseilstelle 25 Meter,
Zeit 3 – 4 Stunden.